Quelle: Thüringer Allgemeine vom 15.07.2022
ZitatAlles anzeigen„Für uns Bahner ist es die Hölle“
Überfüllte Züge, Verspätungen, defekte Klimaanlagen und Toiletten: Was Gewerkschafter zum 9-Euro-Ticket sagen
Sibylle Göbel
Kritisieren Politik und Management: Victoria Ebnet, Geschäftsführende Bundesjugendleitung bei der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG), und EVG-Landesvorsitzender Mario Noack. Sibylle Göbel
Erfurt Das 9-Euro-Ticket über den August hinaus verlängern? Victoria Ebnet und Mario Noack runzeln die Stirn: „Nicht in der jetzigen Form und nicht zu derzeitigen Bedingungen.“ Es sei zwar erfreulich, dass das Ticket so gut angenommen wird. „Aber für Mitarbeiter und Pendler ist es die Hölle“, sagt Ebnet, Geschäftsführende Bundesjugendleitung bei der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG).
Schließlich treffe der große Zuspruch auf eine Personalsituation und Infrastruktur, die dafür überhaupt nicht gemacht seien. „Ein Ticket, um die Verkehrswende einzuleiten, ist eine gute Idee“, sagt auch Thüringens EVG-Landesvorsitzender Mario Noack. „Doch dafür müssten erst einmal jede Menge Hausaufgaben erledigt werden – im Nah- wie im Fernverkehr.“ Die EVG fordere das clevere Anschlussticket – und dass die Beteiligten im Vorfeld einbezogen werden.
Fehlentscheidungen in Politik und Management
Dass so viele Züge Verspätung haben, ausfallen oder überfüllt sind, dass Fahrräder draußen bleiben müssen, Toiletten und Klimaanlagen den Geist aufgeben oder – im schlimmsten Falle -- havarierte Züge mit hunderten Fahrgästen im Nirgendwo stehenbleiben, kurzum: all das, was sich täglich auf Deutschlands Schienen abspielt, sei die Folge von vor Jahren getroffenen Fehlentscheidungen in Management wie Politik. „Wir Eisenbahner baden das jetzt aus“, sagt Mario Noack, seit 1983 in der Branche.
So sei es eine Folge der 1996 getroffenen Entscheidung, Strecken und Netze im Nahverkehr im Wettbewerb zu vergeben, dass in den Fuhrparks der Bahnunternehmen chronische Knappheit herrscht und bei Bedarf keine Loks und Waggons zusätzlich zur Verfügung stehen: „Die Unternehmen, die sich auf die Ausschreibungen bewerben, halten nur exakt den Fahrzeug- und Personalbestand vor, der verlangt wird. Sonst wird es zu teuer, und ein anderer bekommt den Zuschlag“, erklärt Victoria Ebnet.
Das habe zu der Situation geführt, ergänzt Mario Noack, dass die Deutsche Bahn heute fünf Standorte in Deutschland habe, auf denen ausrangierte Fahrzeuge stehen. „Stillstandsmanagement“ heißt das im Bahner-Deutsch. Was dort landet, sei zwar oft noch funktionstüchtig und zum Verkauf geeignet, könne aber – unter anderem wegen der von den Bundesländern gesetzten Standards – nicht einfach wieder auf die Schiene gesetzt werden. Im Fernverkehr, wo es an Fahrzeugen genauso fehlt, werde eine Ersatzflotte gerade neu beschafft.
Doch der Wettbewerb habe noch eine zweite Konsequenz, sagt Victoria Ebnet: „Die meisten privaten Bahnunternehmen bilden nicht selbst aus, weil das Kosten verursacht. Sie übernehmen zwar Personal der Deutschen Bahn, wenn sie den Zuschlag für eine vorher von ihr betriebene Strecke bekommen. Dadurch werden aber viel zu wenige Lokführer, Zugbegleiter und andere Bahnmitarbeiter ausgebildet.“
Die Deutsche Bahn wiederum kompensiere die höheren Kosten durch Einsparungen beim Fahrzeugbestand -- mit den geschilderten Folgen. Dabei lasse sich dieses Problem vergleichsweise leicht lösen, indem die Vergabe von Strecken und Netzen an die Bedingung geknüpft würde, auszubilden. Derzeit fehlten bundesweit Tausende Bahnmitarbeiter, zumal während der Corona-Pandemie zeitweise auch ein Einstellungsstopp in manchen Bereichen galt. Mario Noack: „Die Konditionen bei der Bahn sind vom Gehalt bis zu Leistungen wie bis zu 42 Tage Urlaub durchaus attraktiv, auch wenn wir noch besser werden könnten.“
Kleine Weiche – große Wirkung
Doch nicht wenige Interessenten schreckten die aktuellen Arbeitsbedingungen mit Schichtarbeit an allen Tagen des Jahres ab – und auch immer häufiger aggressiv auftretende Fahrgäste. Den Personalmangel müssten nun jene ausgleichen, die schon bis zum 9-Euro-Ticket stark belastet waren. „Und da gilt dann mitunter das Motto, Augen zu und durch‘, nur damit der Zug rollt“, sagt Thüringens EVG-Landeschef und führt als Beispiel mit 1000 Passagieren besetzte ICE an, die nur mit einem einzigen Zugbegleiter besetzt sind. „Das ist dann schon grenzwertig.“ Auch im Nahverkehr dürften viele Züge im Grunde gar nicht fahren, wenn sie so voll sind, dass Sicherheitsstandards wie freigehaltene Fluchtwege nicht eingehalten werden. Doch was nütze es, einen Zug zu räumen, wenn an der nächsten und übernächsten Haltestelle erneut so viele Fahrgäste hineindrängen?
Genauso dramatisch seien die Folgen jahrzehntelanger Unterfinanzierung der Infrastruktur. Nicht nur die Hochgeschwindigkeitsstrecken bräuchten eine Sanierung und müssten ausgebaut werden. Auch das , wie Mario Noack sagt, „notorisch überlastete und störanfällige“ Netz im Nahverkehr bedürfe in weiten Teilen der Erneuerung. Dabei zeige sich gerade jetzt, da Strecken saniert und deshalb gesperrt werden müssten, wie kurzsichtig vor Jahren so manche Sparmaßnahme gewesen sei. Die beiden Gewerkschafter führen als Beispiel eine in den 90er Jahren entfernte Weiche in Hopfgarten an der Bahnstrecke zwischen Weimar und Erfurt an: „Wäre diese Weiche noch da, müssten jetzt während der sechswöchigen Sperrung nicht so viele Züge ausfallen.“ Nun aber sei Kreuzungs- und Überholverkehr nicht mehr möglich.
„Das hat dann auch großflächige Auswirkungen“, verweist Mario Noack darauf, dass Anschlüsse etwa in Erfurt oder Eisenach während der Bauarbeiten nicht erreicht würden. Die Weiche sei damals entfernt worden, um das Geld für die Wartung zu sparen.
Mit den Summen aber, die der Bund für 2023 in den Haushalt eingestellt hat, kann aus Sicht von Ebnet und Noack der vom Bundesverkehrsminister angekündigte große Ruck bei der Bahn nicht gelingen. „In unserer Wahrnehmung klafft da ein Riesenloch“, sagt Mario Noack. Wenn jetzt die Fehler der vergangenen 20 Jahre wiederholt würden, hätte das noch weit dramatischere Folgen. Die Chance, die Verkehrswende anzustoßen, werde mit dem geplanten Etat „vergeigt“.
Überstunden und Sonderschichten
Statt eines 9-Euro-Tickets können sich die Gewerkschafter künftig ein 365-Euro-Ticket vorstellen. Womöglich sogar eines, „das für alle ab 15 verpflichtend ist. Denn mit dem Geld, das damit in die Kasse käme, könnte nicht nur der jetzige Betrieb am Laufen gehalten, sondern auch in Größenordnungen in Personal und Technik investiert werden“. Allerdings müsse der Gesetzgeber jetzt auch, sagt Noack, „den Allerwertesten in der Hose haben“, die passenden Rahmenbedingungen zu schaffen, damit zum Beispiel Genehmigungsverfahren deutlich kürzer werden.
Dass der Bahnverkehr derzeit überhaupt funktioniert, sagt Victoria Ebnet, sei einzig und allein der Moral der Beschäftigten zu verdanken. Würden sie nicht Überstunden und Sonderschichten bis an die Grenze der Belastbarkeit leisten und selbst im größten Trubel ruhig und souverän bleiben, sähe es noch viel schlimmer aus. Mit und ohne 9-Euro-Ticket.