ZitatOriginal geschrieben von Siemensanier
Ich merke schon, wir drehen uns im Kreis. Darum auch jetzt wieder die physikalisch / mathematische Wissenschaft als Maßstab. Ich habe schonmal geschrieben, dass ich bei diesen Naturwissenschaften von wirklichen Naturgesetzen und unumstößlichen Zusammenhängen ausgehe.
Und dieses ist in der Ökonomie nunmal so nicht gegeben.
Für den Methodenimport und den daraus abgeleiteten Unfehlbarkeitsanspruch gibt es sogar einen Ausdruck, das nennt man Szientismus. Auf die Politik übertragen taucht das in der Praxis heute oft als "TINA-Prinzip" ["There is no alternative"] auf. Wird TINA zu oft bemüht, sehe ich die Gefahr einer Entpolitisierung der Politik. Es ist die Uraufgabe der Politik, verschiedene Lösungswege identifizieren, zu diskutieren, den Wählern schmackhaft zu machen und schließlich sinnvoll umzusetzen. Fallen die erste drei Schritte weg, schadet das der Demokratie.
Auf das Beispiel Mindestlohn übertragen bedeutet das, dass es die Aufgabe der Parteien gewesen wäre, jenseits der alten Systemfrage zu prüfen, wieso die Löhne in bestimmten Bereichen so extrem gesunken sind und was man dagegen tun kann. Der Einsicht, dass flächendeckende Mindestlöhne nicht die allerbeste Lösung sind, hätte eine Politik der Aufklärung über die Gründe folgen müssen, die die Bezieher niedrigster Einkommen nicht verhöhnt und ihnen eine andere Perspektive aufzeigt.
Wer nur das altgediente Schlachtross H.W. Sinn in die Polittalk-Sendung schickt und als Politiker glaubt, damit seine Schuldigkeit getan zu haben, irrt. Die Identifikation des ökonomisch Richtigen steht wie gesagt ganz am Anfang und ist noch nicht einmal die halbe Miete. Der Ökonom muss auch nicht darauf achten, ob das aus seiner Sicht Richtige irgendwelchen Gerechtigkeitskonzeptionen genügt, ob es sich überhaupt durchsetzen lässt und wie es den sozialen Frieden in Deutschland beeinflusst.
Zur ökonomischen Theorie möchte ich noch eins loswerden:
kaum jemand (höchstens vielleicht Herr Sinn, aber der ist schon mehr Politiker als Wissenschaftler und in gewisser Weise religiöser, als er glaubt) wird bestreiten wollen, dass das Absinken der Löhne in bestimmten Berufen nichts mehr mit der Produktivität zu tun hat. Das Modell der Lohnfindung durch die Tarifpartner baut sehr stark auf eine gewisse "Gleichheit der Waffen" auf. Gibt es ein starkes Überangebot an weniger qualifizierten Arbeitskräften stellenweise verbunden mit der glaubwürdigen Drohung einer Arbeitsplatzverlagerung in's Ausland, funktioniert das bekannte System der Lohnfindung nicht mehr. Jedenfalls nicht so, wie es einmal gedacht war, als fairer Interessenausgleich, mit dem beide Seiten leben können.
Verhält es sich so wie dargestellt, lässt sich durchaus das Argument machen, der Staat müsse punktuell eingreifen, z.B. durch eine negative Einkommenssteuer, die von der Idee her die betroffenen arbeitenden Bürger wenigstens nicht in die Nähe von Almosenempfängern rückt, da mit dem Finanzamt abgerechnet wird und nicht mit dem Sozialamt. Da ist einfach sehr viel Psychologie im Spiel. Das zu erkennen macht einen guten Politiker aus. Das zu verkennen ist seit Jahren das Privileg deutscher Wissenschaftler, die durch die Talkshows tingeln und glauben, das sei der Kern der Politik.